Presseaussendungen
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Das Kinder- und Jugendhilfesystem ist ungerecht


Wer hilft den ganz Kleinen und denen an der Schwelle zum Erwachsenenalter?


Von 19. bis 20. Oktober 2016 tagte in Salzburg die 58. Konferenz der Kinder- und JugendanwältInnen Österreichs. Zentrales Thema dabei waren mangelhafte Hilfssysteme für Kinder und Jugendliche, von den ersten Lebensjahren bis ins junge Erwachsenenalter.  

Feigenblatt "Frühe Hilfen"

Längst ist erwiesen, dass die  frühe Kindheit (0 bis 3 Jahre) eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung eines Kindes hat und zu den  prägendsten und gleichzeitig zu den vulnerabelsten Lebensjahren zählt. In dieser Zeit ist die Gefahr der Überlastung bei Familien besonders groß. Die dramatischsten Auswirkungen dieser Überforderung werden  immer wieder an Kindesmisshandlungen als Spitze des Eisbergs sichtbar. 

Genau hier setzen „Frühe Hilfen“ an. Sie sollen der Idee nach möglichst frühzeitig, niederschwellig und nicht stigmatisierend vom Wochenbett an und unterschiedslos zunächst jeder Mutter/jedem Elternpaar zur Verfügung stehen. Durch die „Frühen Hilfen“ soll der Neubeginn etwas leichter gemacht werden und die Gefahr einer Kindeswohlgefährdung erkannt und durch entsprechende Hilfestellung reduziert werden. Wirksamkeit und Effektivität, auch in Hinblick auf teure Folgekosten, sind längst nachgewiesen. 
Doch leider sind die „Frühen Hilfen“, wie so vieles in Österreich, in unterschiedlich aufgestellten und zeitlich begrenzten Projekten aufgesplittert. Nur Vorarlberg hat „Frühe Hilfen“ seit fast zehn Jahren (ausgehend von dem tragischen Tod eines Kleinkindes) konsequent umgesetzt. Trotz best practice-Beispiels und politischer Bekenntnisse sind wir österreichweit von einem breit aufgestellten qualifizierten Angebot für alle noch meilenweit entfernt. 

Beispiel:
In Salzburg schätzt man, dass sieben Prozent der jungen Familien Bedarf an  weiterführender Hilfe hätten. Das derzeitige Frühe Hilfen-Projekt kann gerade einmal  ein Zehntel davon abdecken. 

Aus Sicht der KIJAS sind folgende Punkte entscheidend:

  • Verbindliche Kooperation und Vernetzung zwischen Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitssystem und anderen Systempartnern 
  • Keine Vorsortierung der Familien in gefährdete oder nicht gefährdete Familien sondern ein präventiver und nicht stigmatisierender Zugang für alle Eltern
  • Gut ausgebildete MitarbeiterInnen nach einheitlichen Qualitätsstandards
  • Rollenklarheit sämtlicher Berufsgruppen (ÄrztInnen, LehrerInnen und KindergartenpädagogInnen), insbesondere im Zusammenhang mit der Meldepflicht 
  • Ausreichende Finanzierung für flächendeckendes Angebot für alle Regionen 

Die KIJAS Österreich appellieren dringend, diese Erfolgsfaktoren auf alle Bundesländer auszudehnen. Es ist absolut notwendig, ein so wichtiges Instrument wie die „Frühen Hilfen“, von Beginn an auf gute Beine zu stellen. Sie tragen maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei. Hier ist der Bund gefragt, verbindliche Standards vorzugeben. Er kann bei Vorarlberg lernen!

Mit 18 aus dem Nest

Ähnlich uneinheitlich und mangelhaft gestaltet sich das Hilfssystem am anderen Ende der Kindheit, bei den jungen Erwachsenen. In diesem Alter werden wichtige Weichen für die Zukunft gelegt, doch der Übergang zur Verselbständigung (Wohnung, Arbeit, Partnerschaft etc.) ist mitunter schwer und wird im Fachjargon als Adoleszenzkrise bezeichnet.

Im Schnitt ziehen junge Menschen hierzulande mit 24 Jahren von zu Hause aus – und auch dann werden die meisten noch weiter (finanziell) unterstützt. Anders ist es jedoch ausgerechnet bei den Jugendlichen, die außerhalb der Familie, also in Wohngemeinschaften oder Pflegefamilien, aufwachsen. Bei ihnen endet die Hilfe häufig mit der Volljährigkeit. Mit 18 müssen diese jungen Leute auf den eigenen Füßen stehen.
Aktuell werden in Österreich nur 15 Prozent der Maßnahmen der „vollen Erziehung“ der Kinder- und Jugendhilfe nach dem 18. Geburtstag verlängert (bis maximal 21 Jahre). Dabei schwanken die Zahlen von Bundesland zu Bundesland und reichen von rund zehn Prozent in Niederösterreich bis zu fast 30 Prozent in der Steiermark. Die jungen Erwachsenen, die aus der Fremdunterbringung ausziehen müssen, tragen ein erhöhtes Risiko, an den Hürden des Erwachsenwerdens zu scheitern
.

Die Diskriminierung der sogenannten „Care Leaver“ ist kein österreichspezifisches Problem, doch in anderen Ländern hat man bereits reagiert:

  • In Norwegen geht die staatliche Unterstützung bis zum Alter von 24 Jahren.
  • In D können die Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bis 26 verlängert werden, bis 21 kann man neu in eine Maßnahme hineinkommen.
  • In Großbritannien muss zwei Jahre nach Beendigung der Maßnahme der/die Jugendliche aktiv kontaktiert werden, um zu sehen, ob Unterstützungsbedarf besteht.

Auch in Österreich rücken die „Care Leaver“ nun langsam in den Fokus des Interesses. Sowohl an der Uni Salzburg als auch an der Uni Klagenfurt laufen Forschungsprojekte zu ihrer Lebensrealität. Der Dachverband österreichischer Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ) hat in vier Bundesländern für drei Jahre das Modellprojekt „Welcome to life“ gestartet und setzt sich darüber hinaus für zuverlässiges Datenmaterial  ein, um auf dieser Basis Verbesserungen anzuregen. Doch für die Jugendlichen ist das mit Sicherheit noch nicht ausreichend.

Die KIJAS fordern:

  • Rechtsanspruch auf Verlängerung und  Wiederaufnahme bzw. erstmalige Aufnahme der Kinder- und Jugendhilfemaßnahme bis mindestens 21 Jahre
  • Stabile SozialpartnerInnen für ehemals fremduntergebrachte Jugendliche - auch nach der Fremdunterbringung
  • Bundesweit einheitliches Vorgehen orientiert an den Bedürfnissen der Jugendlichen, nicht am vorhandenen Budget
  • Vergleichbare österreichweite Daten

Das Kindeswohl ist in allen Belangen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen - so heißt es in Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, der seit 2011 in Österreich Verfassungsrang hat.  
Es kann nicht sein, dass es in einem kleinen Land wie Österreich einen Unterschied macht, ob ein Kind in Vorarlberg oder im Burgenland lebt und welche Art der der Hilfestellung es bekommt. Die KIJAS Österreich appellieren daher dringend an den Gesetzgeber um entsprechende kinderrechtliche Anpassung.

ORF_Vorarlberg_Jugendhilfe_10_2016.pdf

Kinder-_und_Jugendhilfestatistik_2015.pdf

ORF_Kärnten_Jugendhilfe_10_2016.pdf

Eklatante Unterschiede:
Das Kindeswohl ist den Bundesländern unterschiedlich viel wert!

Die neue Jugendhilfe-Statistik 2015 zeigt, dass es zwischen den Bundesländern gravierende Unterschiede bei den Maßnahmen zum Kindeswohl gibt.

Der Dachverband Österreichischer Kinder-und Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ, www.doej.at ) ist besorgt über die massiven Unterschiede in der Praxis der Jugendhilfe zwischen den Bundesländern. „Die Analyse der neuen Jugendhilfe Statistik 2015 deutet darauf hin, dass den Ländern der Kinderschutz und das Kindeswohl unterschiedlich wichtig sind oder dass sie damit zumindest sehr unterschiedlich umgehen.“ meint Hubert Löffler, Geschäftsführer des DÖJ. Er hat die Daten, welche die Bundesländer an das Ministerium für Familie und Jugend übermittelten, analysiert.

„Unterstützung der Erziehung“ und „Fremdunterbringung von Kindern“ sind die wesentlichen Maßnahmen, die die Jugendhilfe eines Landes ergreifen kann, um das gefährdete Wohl von Kindern zu sichern. Im einen Fall besuchen SozialarbeiterInnen die Familie, um sie zu unterstützen. Im anderen Fall werden die Kinder aus der Familie genommen und in einer sozialpädagogischen Einrichtung oder Pflegefamilie untergebracht.

Bezogen auf die Anzahl von Minderjährigen im jeweiligen Bundesland werden diese Maßnahmen z. B. in OÖ in nur 2,3%, in der Steiermark aber in 5,3% eingesetzt! Es ist unwahrscheinlich, dass die Gefährdungen der Kinder in der Steiermark mehr als doppelt so häufig sind. Vielmehr wird das Kindeswohl unterschiedlich definiert oder unterschiedlich wichtig gesehen.

Wenn ein Bundesland doppelt so viel Geld für Maßnahmen zur Verfügung stellt als ein anderes, dann kann die Jugendhilfe doppelt so oft im Sinne des Kindeswohls tätig werden. In der Steiermark und in Kärnten wird pro Minderjährigen fast doppelt so viel Geld für die Maßnahmen der Jugendhilfe ausgegeben (520 €) als in Tirol und Niederösterreich (290 €)! Das heißt allerdings noch nicht, dass das Geld in der Steiermark oder in Kärnten auch doppelt so effektiv eingesetzt ist. Die höheren Kosten eines Bundeslandes können auch auf einer Häufung von Fremdunterbringungen beruhen. Fremdunterbringungen gibt es in Kärnten und in Wien besonders häufig: im Schnitt bei 1,1% der Minderjährigen. In Oberösterreich, Tirol und Niederösterreich gibt es Fremdunterbringungen nur bei 0.7% der Minderjährigen. Die Unterstützung an Stelle von Fremdunterbringung wird in der Steiermark, im Burgenland und in Vorarlberg am stärksten bevorzugt. „Vermutlich wird der Bedarf durch die zur Verfügung gestellten Dienste definiert und nicht die Dienste nach dem Bedarf zur Verfügung gestellt“ meint Löffler.

Auch die Hilfen für junge Erwachsene als Verlängerung der Jugendhilfe nach der formalen Volljährigkeit werden in den Ländern ganz unterschiedlich eingesetzt: In Wien und Niederösterreich sind sie beinahe nicht existent, in Vorarlberg und Tirol recht häufig. Als ob junge Erwachsene in diesen Ländern völlig unterschiedliche Bedarfe hätten.

Der DÖJ und seine mehr als 150 Jugendhilfe-Einrichtungen aus allen Bundesländern möchten zu einem Austausch zwischen den Verantwortlichen für Jugendhilfe in den Bundesländern über die unterschiedliche Handhabung des Kindeswohls aufrufen. „Das Kindeswohl darf nicht in diesem hohen Ausmaß der Beliebigkeit der Länder unterliegen zumal es eine Rahmengesetzgebung durch den Bund gibt. Wir fordern das zuständige Bundesministerium für Familie und Jugend auf, diese nun vorliegenden Daten zum Anlass zu nehmen, um sich für hohe und einigermaßen gleiche Standards der Kinder- und Jugendhilfe in allen Bundesländern einzusetzen.“ meint Gerald Herowitsch-Trinkl, Obmann des DÖJ.

Als Konsequenz der gravierenden Differenzen zwischen den Bundesländern in der Praxis der Kinder- Jugendhilfe fordert der DÖJ vom BMFJ und von Frau BM Karmasin:

  1. Anstrengungen für eine österreichweite Gleichbehandlung von Kindern bei den Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Es genügt nicht, eine Rahmengesetzgebung zu verabschieden und sich damit auch von allen weiteren Tätigkeiten für die Kinder- und Jugendhilfe zu verabschieden.  
  1. 2)Die Übernahme einer österreichweiten Steuerungsfunktion der Kinder- und Jugendhilfe durch das BMFJ trotz - ja gerade wegen - des föderalen Ansatzes der Jugendhilfe in Österreich.
    1. Die Ausführungsgesetze der Bundesländer müssen auf ihre Dienlichkeit und Nützlichkeit und nicht nur ihre rechtliche Richtigkeit geprüft werden.
    2. Die BKJH-Statistiken dürfen nicht nur archiviert werden! Sie sollen vom BMFJ jährlich erörtert werden und es soll dazu Stellung bezogen werden – wie z.B. in Deutschland üblich.
    3. Die Datenerhebung durch die Bundesländer muss verbessert und auf Basis des Auswertungsbedarfes erweitert werden (z.B. durch genauere Definitionen der sozialen Dienste, durch Ergänzung mit qualitativen Angaben).
    4. Der fachliche Dialog zwischen den Bundesländern muss durch entsprechende Veranstaltungen gefördert werden.  
  1. Die aktuell stattfindende Evaluation des Kinder- und Jugendhilfegesetzes hat diese und die nächsten Analyse der Jugendhilfe-Statistik zu berücksichtigen. So minimal und defizitär der Datenpool dieser Statistik auch ist, liefert er trotzdem schon Ansatzpunkte für eine Qualitätsverbesserung, insbesondere wenn man die Unterschiede zwischen den Bundesländern betrachtet.
  1. Eine schnelle Neugestaltung der Übergangsphase ins Erwachsenenleben für junge Menschen, die von der Jugendhilfe unterstützt werden. Die aktuelle Regelung ist finanziell fahrlässig, wissenschaftlich rückständig und unmenschlich.

Im Rahmengesetz soll insbesondere vorgesehen werden:

  1. Verankerung der Hilfen für Erwachsene als Soll-Bestimmung
  2. Indikationskriterien für ihren Einsatz
  3. Ausdehnung bis zum Alter, in dem junge Erwachsene durchschnittlich die Familie verlassen (z.B. 25 Jahre)
  4. Möglichkeit der Neuaufnahme in die Maßnahmen der Jugendhilfe über 18 (z.B. wie in Deutschland bis 21)

 

Information zum DÖJ

Der Dachverband Österreichischer Jugendhilfeeinrichtungen DÖJ wurde 2008 als gemeinnütziger Verein gegründet und ist mit der Zahl 937773338 bei der Bezirkshauptmannschaft Mattersburg eingetragen. Mitglieder können private oder öffentliche Träger österreichischer Jugendhilfeeinrichtungen sein, die im Bereich der Maßnahmen der Erziehung nach den Jugendhilfegesetzen der Länder anerkannt sind.